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Geschichten, die das Rössli schrieb…


Die Rössli-Meitschi

Am 3. Januar 2001 treffen sich die fünf Rössli-Meitschi Anna, Maria, Dorli, Gritli und Emma zu einem Schwatz in der Sonderbundsstube des Gasthofs. Es sind die fünf betagten Töchter von Xaver, der als Vertreter der zweiten Generation Erni von 1907 bis 1947 wirtete. Nur zwei Tage nach dem Treffen stirbt überraschend die jüngste Schwester Emma.

Der General war hier

Was die fünf alten Damen dem damaligen Rössli-Wirt, ihrem Neffen Robert Erni-Wicki, auf Tonband erzählen, ist ein reichhaltiges und farbiges Bild des politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens in Ruswil − und weit darüber hinaus:  Im zweiten Weltkrieg beherbergte das Rössli nämlich häufig Offiziere der Schweizer Armee, einmal sogar General Henri Guisan. Und gegen Kriegsende schliefen im Saal internierte Kriegsteilnehmer aus Frankreich, Polen und Deutschland. Feriengäste gab es auch, besonders in den sechziger Jahren kamen sie aus der ganzen Welt ins Hotel Rössli. 

Leben im Gasthof

Für die fünf Rössli-Meitschi und ihre drei Brüder war der Gasthof in den 30-er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts auch die Familienwohnung – eine abgetrennte Wirtewohnung gab es bis in die 70-er Jahre nicht. Ihre Mutter Anna Erni-Achermann war wohl so etwas wie eine ideale Wirtin: Hübsch, klug, eine begabte Köchin und geschäftstüchtig: Dem Handlungsreisenden Mattich servierte sie jeweils zu Beginn einer Veranstaltung ein leckeres Pastetli, welches dieser nicht bezahlen, aber mit sichtbarem Genuss und hörbarem Rühmen verspeisen musste. Logisch, dass dann die Bestellungen haufenweise in der Küche eintrafen! Alle Kinder mussten schon in jungen Jahren im Betrieb anpacken, besonders nachdem Mutter Anna schon im Jahr 1936 nur 45-jährig starb.

Aufklärung im Schrank

Lange vor und nach den beiden Weltkriegen war Ruswil mit der Theatergesellschaft, dem Orchester, mehreren Musikvereinen und Chören eine kulturelle Hochburg. Das Rössli besass damals den einzigen grösseren Saal weit und breit, und so fanden dort sämtliche Aufführungen statt, auch die Unterhaltungsabende der Turnvereine: Jene des katholisch-konservativen KTV Fides und des eher liberalen Eidgenössischen Turnvereins ETV. Dessen ungewohnt kurz berockte Damenriege löste 1957 sogar einen veritablen Dorfskandal aus. Bei allen Veranstaltungen waren auch die fünf Erni-Töchter dabei, als Schinkenbrot- und Kuchenverkäuferinnen oder als Garderobièren. Und natürlich auch als heimliche Zaungäste an Proben und Aufführungen. Oder auch etwa versteckt im Schrank des Kostümzimmers, wo ein Theaterpärchen sich unbeobachtet glaubte und so den unschuldigen Mädchen Unterricht im «Karisieren» bot...

«Obere» Kultur…  

Regelmässige Grossereignisse früherer Jahre waren die Primizfeiern: Junge Geistliche sassen nach ihrer ersten Messe in der heimischen Pfarrkirche mit 300 Gästen beim Bankett im Rössli. Anders, aber ebenso berühmt waren die Rössli-Bälle: Um die Jahrhundertwende jene des Cäcilienvereins, später die legendären Rosenbälle mit hunderten von Krepppapier-Rosen und mit grossformatigen Karikaturen aus der Künstlerhand des unvergesslichen Willi Huwiler, der zum allgemeinen Gaudi die Rusmeler Aktualitäten dokumentierte. Auch Gastspiele fanden statt, zum Beispiel von Walter Roderer als «Mustergatte».

…und «untere» Kultur

Eine fast sagenhafte Parallelgeschichte zu diese «Hochkultur» schrieb in dieser Zeit das «Rössli-Stobali» (heute: Pizzeria Valle Rossa) im Strassengeschoss des Gasthofs: Eine Beiz, die in Zeiten ungeheizter Angestelltenzimmer tatsächlich manchem die Wohnstube ersetzte, eine Beiz, wo die Gäste einander vor lauter Stumpen- und Zigarettenrauch kaum sahen, was zum Übernamen «Augenklinik» führte, eine Beiz, wo der Boden mit Sägemehl bestreut war und wo buchstäblich jedermann verkehrte. Aktenkundig ist zum Beispiel, dass der bekannte Ruswiler Huobschür-Mörder am Abend des 20. Dezember 1909 im«Stobali» sass, bevor er bei Nacht und Nebel und Schneesturm aufbrach zu seiner Schreckenstat.

Erfreulicher sind die Erinnerungen an jene Tage und Nächte, wo eine Stammkundschaft von Knechten, Handwerkern und Viehhändlern mit allerlei Jungvolk zusammentraf, diskutierte, feierte und zu später Stunde auch «g‘scherete», wie die Überlieferung berichtet. Im Gässli zwischen dem Rössli und der damaligen Bäckerei  Erni, hinter dem ebenerdigen Stobali-Eingang, befand sich ein öffentliches, weil türloses Pissoir. Für viele Heimkehrer war es die  letzte Station nach der Polizeistunde, sprich: der gesetzlichen Schliessung nachts um halb eins.  Und noch weiter hintenwar das zeitgenössische Bio-Recycling, sprich: der «Söistall». 

Spielen mit Adenauers Enkeln

«The Hotel Roessli is for me Everything a hotel should be!»  

Dieses umfassende Lob schrieb Aidan A. Kay, Feriengast aus Neuseeland im Juli 1961 ins Gästebuch. In den sechziger Jahren, das heisst zu Zeiten des Wirtepaars Robert und Frieda Erni-Zemp, beherbergte das Rössli Menschen aus allen Ecken der Welt: Deutschland, Österreich, England, Holland, Indien, Israel...! Was Ruswil damals, 15 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, zu bieten hatte, war unverfälschtes, sozusagen heiles Schweizer Landleben. So kam es, dass Robert junior wiederum zu einer Gastfamilie nach Deutschland eingeladen wurde und dort zusammen mit den Grosskindern des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer spielte, ja sogar mit dem Kanzler persönlich korrespondierte. Eine dauerhaft begehrte Feriendestination grossen Stils wurde Ruswil dann doch nicht, dafür war die Gegend zu wenig mondän, und auch das Wanderwetter war oft garstig, wie die Gäste vermerkten. Doch das wurde immer aufgewogen durch:   

«Betreuung vorzüglich, Verpflegung famos, so dass nach zwei Wochen zu eng war die Hos‘!»

Weiterleben als Kunstwerk

Am 20. Januar 2020 starb Anna Katzenmeyer-Erni,  das letzte Rössli-Meitschi, im biblischen Alter von gut 102 Jahren. Emma Bättig-Erni, ihre jüngste und zuerst verstorbene  Schwester, lebt ewig weiter: als Kunstwerk auf der Fassade des Ruswiler Gemeindehauses, das bis 1954 Josefshaus hiess und der Kirchgemeinde gehörte. Der Ruswiler Kunstmaler Jakob Huwiler, Vater von Willi Huwiler, stellte hier grossflächig den heiligen Zimmermann Josef in seiner Werkstatt dar. Zu seinen Füssen spielt fröhlich das Jesuskind, nämlich die damals neunjährige Emma Erni – Genderfluidität avant la lettre.

Quellen: Robert Erni-Wicki, mündlich und Tonband / Gästebuch Gasthof Rössli

Franz-Josef Erni, der Grossvater der Rössli-Meitschi, erwarb das Rössli im Jahr 1894 von einer vewandten Familie Erni 

Die fünf Rössli-Meitschi am 3. Januar 2001 in der Sonderbundsstube (von links): Dorli (Schwester Maria Grazia), Emma Bättig-Erni, Maria Mahnig-Erni, Gritli (Schwester Dora Maria), Anna Katzenmeyer-Erni.

Winterszene (etwa. 1925) mit der Rössli-Ecke und dem Anfang der Rüediswilerstrasse. Im Bild: Der spätere Wirt Robert Erni-Zemp im Alter von zehn Jahren.

Robert Erni, Rössliwirt von 1979 bis 2012, im Alter von etwa zwei Jahren beim Saufüttern unter Aufsicht (wahrscheinlich Josy Signer)